„GWD ist wie ein Schmerzmittel“
Allgemein Handball | 12. Apr 2024

Natürlich gibt es jede Menge Anekdoten, bunte Geschichten und Rückblicke auf große Momente. Doch ein stiller Moment ist der eindringlichste des Abends. Als Anika Schäffer darüber spricht, was GWD Minden für sie bedeutet, lauschen rund 160 Zuschauer im ausverkauften BÜZ am Johanniskirchhof gebannt ihren Worten.

Die wegen einer Lähmung auf den Rollstuhl angewiesene Anhängerin trägt ein GWD-Trikot. Natürlich. Sie kann in ihrem schweren Gefährt, dass sie geschickt manövriert, als einziger Talkgast des GWD-Sportstudios nicht auf die Bühne kommen. Doch auch unten im Publikum ist sie maximal sichtbar, wenn sie über das spricht, was der nun 100-jährige Handballverein für sie bedeutet. 2014 hat sie erstmals ein Spiel der C-Jungen besucht. Kurz darauf dann ein erstes Bundesliga-Spiel. Seitdem ist sie Fan und nahezu bei jedem Heimspiel dabei. „GWD ist wie ein Schmerzmittel“ erzählt sie und betont den Wert der Begegnungen und Freundschaften, die der Verein ihr bietet. „Natürlich ist es mir wichtig, dass die Mannschaft gewinnt. Aber es ist viel mehr als das“, sagt sie.

Wie viel dieser Sportverein zu bieten hat, wird auch an anderen Stellen der zweiten Sportstudios deutlich. Beispielsweise wenn Norbert und Silvia Lutzer darüber reden, warum sie als Ehrenamtler hunderte Stunden investieren: „GWD ist ein Stück weit auch Familie geworden“, sagt Lutzer. Beide gehören zu denen, die – wie man sagt – den Laden am Laufen halten. Stellvertretend für die Ehrenamtler im Verein stehen sie auf der Bühne. Bescheiden betonen sie, sie wüssten gar nicht recht, warum. Doch eine Weile werden sie noch für GWD aktiv bleiben, wird Norbert noch den Nachwuchs im Bulli kutschieren, denn er wünscht sich: „Noch einmal mit der B-Jugend deutscher Meister werden.“

Wie weit dieses Ziel aktuell entfernt ist, machen Nachwuchskoordinator Lars Halstenberg und A-Jugendtrainer Sebastian Bagats deutlich, als sie gemeinsam mit den beiden in der GWD-Jugend groß gewordenen Profis Max Staar und Mats Korte über die maßgeblich von Dietmar Molthahn in den 90er Jahren geformte Talentschmiede reden. Vom ersten Jugend-Nationalspieler Gerd Becker, der 1971 mit einem Jugendländerspiel die Kreissporthalle einweihte, bis hin zu U21-Weltmeister Florian Kranzmann spant sich der Bogen, der bei GWD ausgebildeten Top-Handballer. Doch die großen Erfolge der GWD-Teams liegen eine Weile zurück. 2008 gewann die B-Jugend letztmalig die Deutsche Meisterschaft, Staar und Korte schafften es mit der A-Jugend zweimal bis ins DM-Viertelfinale. Die finanziell deutlich besser ausgestatten Leistungszentren an anderen Standorten haben GWD abgehängt. „Wir müssen kreativ sein und mit anderen Argumenten punkten“, sagt Halstenberg. Vielleicht auch mit Kooperationen, wie sie aktuell mit dem TSV Hahlen als Partnerverein angebahnt wird.

Kleine Teile aus dem großen GWD-Puzzle werden am unterhaltsamen Abend im BÜZ hochgehoben, unter jedem Teil verstecken sich kleine Geschichten. Gerd Becker und Walter von Oepen berichten von ihrer Teilnahme an den Olympischen Spielen als Karrierehöhepunkt, sie erzählen von besonderen Momenten mit dem damaligen Bundestrainer Vlado Stenzel und erläutern, warum sie 1978 nicht mit Deutschland Weltmeister wurden. „Die Schulter wollte nicht mehr“, sagt von Oepen. Becker hatte damals der Prüfung als Zahnmediziner an der Uni den Vorzug gegeben. „Wenn ich gewusst hätte, dass wir Weltmeister werden, hätte ich mich wahrscheinlich anders entschieden“, bekennt Becker offen und grinst. Die Zuschauer, darunter GWD-Ikonen wie Friedrich Spannuth oder Herbert Lübking, amüsieren sich prächtig.

Das gilt erst recht, als Artur Brand aus dem Nähkästchen plaudert. Rund 30 Jahre war er für GWD als Mann mit den heilenden Händen und kraftvollem Händedruck als Masseur tätig. Kummerkasten für die Spieler sei er nebenbei gewesen und Geheimnisträger. Auf der Liege hätte so mancher Spieler auch mal sein Herz ausgeschüttet. Brand, der in dieser Woche seinen 87. Geburtstag feiern wird, hat einen eigenen Fan-Club mitgebracht. Mit den jungen Freunden reist er regelmäßig nach Mallorca. „Einer muss sie ja betreuen“, sagt Brand und grinst. Die Arbeit mit jungen Leuten habe ihn frisch gehalten, sagt er über die Jahre bei GWD, denen noch sieben Jahre als Masseur der Frauenhandball-Nationalmannschaft folgten. Sein Auftritt lässt an diesem Statement keinen Zweifeln.

Andreas Bock und Rüdiger Traub nahmen die Gäste zurück in die wilden 90er Jahre. GWD gelang damals der Aufstieg nach neun dunklen Zweitliga-Jahren zurück ins Oberhaus. „Wir haben zwar keinen Titel gewonnen, wie die Legenden hier im Publikum“, meinte Bock, damals Kreisläufer, in respektvoller Anspielung auf die gewaltigen Meisterfeiern der 60er und 70er Jahre„aber wir sind damals auch im Cabrios durch die Stadt bis zum Marktplatz gefahren. Und da waren dann durchaus ein paar Leute.“ Sie erinnern an legendäre Partys, an das Bosman-Urteil und die Umwälzungen in den Mannschaften. Sie haben die Finanzkrise bei GWD erlebt. Traub hebt hervor, wie Verein und Förderer damals den Verein in einer gemeinsamen Kraftanstrengung gertett haben. Und sie erinnern mit unterhaltsamen Anekdoten an die Weltstars bei GWD. An Musterprofi Talant Duschebajew, an Lebemann Stephane Stoecklin oder Wurfmaschine Aleksandr Tutschkin, der den Rechtsaußen nur als Anspielstation brauchte, wie Traub erzählt.

Philipp Koch, Historiker und Handballexperte mit GWD-Vergangenheit unter anderem als Co-Trainer des Bundesliga-Teams und Jugendcoach, beleuchtete die Entwicklung von GWD, den Wert von Heimat am Beispiel der aktuell nicht nutzbaren Kampa-Halle, sowie die überragende Bedeutung von GWD Minden für die Region: „GWD ist, das kann man deutlich sagen, ein Aushängeschild der Stadt. Das darf und muss man wertschätzen“, betonte Koch. Der Museumsleiter stellte zudem kurz die im Mai anlaufende Ausstellung „Kleine Tore – Große Sprünge“ vor, die sich mit zahlreichen Angeboten dem Handballsport in Westfalen und dem Rheinland widmet.

Nach rund drei Stunden endet das zweite und letzte Sportstudio, das GWD Minden im Jubiläumsjahr auf die beide gestellt hat. Beseelt und bester Laune nutzen die Gäste wie schon vor „Anpfiff“ und in der Halbzeitpause die Gelegenheit zum munteren Plausch. Weiter gehen die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Geburtstag am 31. Mai mit dem Festakt im Mindener Rathaus – und am besten vorher schon mit einer Party zum gelungenen Klassenerhalt.

© Mindener Tageblatt – Marcus Riechmann